Ein flüchtiger Blick auf die zuletzt 2014 veröffentlichte Verbreitungskarte des Rotwildes, kann einen, als Schleswig-Holsteinischen Jäger schon stolz werden lassen. Könnte man doch auf die Idee kommen, dass sich vom Süd-Osten des Landes, bis an die Dänische Grenze im Nord-Westen, ein nahezu geschlossenes Rotwildgebiet erstreckt. Die Sachlage ist aber natürlich zu komplex, als dass sie sich auf einer halbseitigen Karte darstellen und auf einen Blick verstehen ließe.
Die vielerorts schier unüberwindbaren Hindernisse in Form von Autobahnen, Siedlungen, Industriegebieten, vielbefahrenen Bundesstraßen, Bahnlinien, Aufforstungen und Freiflächensolarenergieanlagen, machen nämlich aus einem beeindruckenden, weite Teile des Landes überspannenden Rotwildgebiet, faktisch viele kleine, weitestgehend voneinander isolierte Vorkommen. Die tatsächliche Situation ist folglich eine ganz andere, als man gemeinhin denken könnte.
Um die aktuelle Lage des Rotwildes zu verstehen, muss man wissen, dass das Rotwild in Schleswig-Holstein, nach der Reform des Jagdrechts Mitte des 19. Jahrhunderts weitestgehend ausgerottet wurde. Eine Analyse der Streckenmeldungen aus den Jahren 1869 bis 1873, von Herrn Forstdirektor a.D. H.-A. Hewicker, kam zu dem Ergebnis, dass es 1869 nur noch maximal 50 bis 60 Stück Rotwild in Schleswig-Holstein gab. Diese 50 bis 60 Stück Rotwild sind, mit Ausnahme der Population im Duvenstedter Brook, die Urahnen der Stücke, die hier heute ihre Fährten ziehen. Die Bestände sind in den Folgejahren marginal angestiegen, müssen sich aber über Jahrzehnte hinweg auf einem sehr geringen Niveau bewegt haben. Die Masse des Rotwildes, dass heute durch unser Land zieht, ist daher sehr eng miteinander verwandt.
Keine der Teilpopulationen im Land ist für sich genommen groß genug, um sich dauerhaft aus sich heraus gesund zu erhalten. Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung, dass es immer wieder zur Abwanderung einzelner Stücke in andere Teilpopulationen kommt. Leider enden diese Wanderungen allzu oft an einem der zuvor beschriebenen Hindernisse. Dieser Umstand trifft insbesondere für die Populationen im Zentrum des Landes, nord-westlich der A1 und südlich des Nordostseekanals zu. In diesem Bereich ist die Situation dafür aber umso ernster. Die Folgen sind erschütternd. Im Hasselbusch zeigen sich seit Ende der 1990er Jahre Unterkieferverkürzungen, Schädeldeformationen und es wurde sogar ein Kalb ohne Lichter gesetzt. Galt der Hasselbusch lange Zeit als Einzelfall, so zeigen sich erste Anzeichen einer genetischen Verarmung mittlerweile auch im Duvenstedter Brook, wo 2019 erstmals zwei Hirsche mit verkürzten Unterkiefern gesichtet wurden. Eine genetische Analyse beider Populationen von Edelhoff et al. hat zwar sehr geringe Einschläge gebietsfremder Stücke in beiden Populationen nachgewiesen, aber der Austausch mit anderen Vorkommen ist derzeit schlichtweg zu gering, als dass diese Populationen, unter den gegebenen Umständen, dauerhaft gesund erhalten werden können. Aus Steinburg ist auch schon ein Fall eines Rothirsches mit deformiertem Schädel bekannt. Nun macht eine Mücke noch keinen Sommer, aber bei derVorgeschichte ist es durchaus vorstellbar, dass dies auch ein Zeichen von Inzuchtdepression ist
Auch wenn die Lage im Hasselbusch schon deutlich weiter fortgeschritten ist als im Duvenstedter Brook, so liegt die Ursache für die Inzuchtdepressionen in beiden Populationen doch in ihrer Verinselung und den geringen Austausch mit anderen Rotwildpopulationen. Die Ausgangssituation im Duvenstedter Brook stellt sich dabei jedoch gänzlich anders dar als im Hasselbusch und dem Rest des Landes. Die Population im Brook wurde nämlich vor etwa 70 Jahren, durch die Auflösung eines Jagdgatters begründet, in dem zuvor Tiere ungarischer, polnischer und österreichischer Herkunft gehalten wurden. Der genetische Austausch mit den anderen Rotwildvorkommen, wäre unter diesen Umständen ideal. Auch wenn vereinzelte Hirsche tatsächlich den Weg in die Segeberger Heide geschafft haben, so zieht es die meisten von ihnen leider gen Osten, wo ihre Reise dann an der A1 endet.
Es ist offensichtlich, dass die Lebensraumzerschneidung das Rotwild in Schleswig-Holstein in seinem Fortbestand gefährdet. Da stellt sich natürlich die Frage, welche Rolle die Grünbrücken in dieser Gemengelage spielen. Immerhin haben wir ja mittlerweile sechs Stück davon im Land, die nicht zuletzt auf Initiative der Rotwildhegeringe gebaut wurden.
Allgemein lässt sich sagen, dass Grünbrücken sehr effektive Instrumente bei der Wiedervernetzung von Rotwildpopulationen sind. Wenn hier im Folgenden also Schwachpunkte aufgezeigt werden und Kritik geäußert wird, dann geht es dabei nicht um die Grünbrücken an sich, diese sind gut dimensioniert und gestaltet. Wir brauchen sogar noch mehr von ihnen, aber auch weitere Querungshilfen in Form von Unterführungen und elektronischen Wildwarnanlagen. Ferner sollte beim Neu- und Ausbau von Straßen und Bahnlinien, auch in Erwägung gezogen werden, diese an wichtigen Fernwechseln abzusenken und ähnlich wie an der A7 bei Stellingen, mit einem Deckel zu versehen. Dies würde den Raumwiderstand für das Wild deutlich reduzieren, so dass es den Querungspunkt weitestgehend ungestört überwinden könnte.
Selbst die besten Querungshilfen sind jedoch nur so gut wie ihr Standort und ihre Hinterlandanbindung, sprich ihre Erreichbarkeit. In unser stark fragmentierten Landschaft, ist dass das grundlegende Problem. Deshalb ist es ganz entscheidend, dass das Hinterland von Querungshilfen und die Wanderkorridore auf ganzer Länge geschützt und nicht weiter verbaut werden.
Dabei dürfen wir keine Zeit verlieren. Wir befinden uns nämlich in einem Rennen gegen die Zeit oder besser gesagt, in einem Rennen gegen die nicht enden wollende Lebensraumzerschneidung. Es reichen nämlich schon wenige schlecht geplante kleine Bauprojekte, die Anlage von Solar- und Windparks sowie der Ausbau von Bahnlinien und Bundesstraßen aus, um eine Querungshilfe für das Rotwild faktisch unerreichbar zu machen und einen Fernwechsel zu verschließen. Selbst die Anlage gezäunter Aufforstungen und Knickanpflanzungen kann hier großen Schaden anrichten. Dieses Risiko betrifft alle Arten von Querungshilfen. Von den sechs Grünbrücken im Land sind die beiden bei Brokenlande und Bad Bramstedt jedoch ganz besonders davon betroffen.
Die Standortwahl für die Grünbrücke in Brokenlande war ein besonders spezieller Fall. MEISSNER et al. wiesen bereits 2005 bei der Standortplanung darauf hin, dass die „Möglichkeiten für eine sinnvolle Platzierung der Grünbrücke […] durch die beiden Raststätten, den Ort Brokenlande und den Gebäudekomplex des Pony-Parks im Königsmoor eingeschränkt“ sind. Da es sich jedoch um die einzig verbliebene Querungsoption für die Verbindung der in Aukrug, Barlohe, Iloo, Schierenwald und weiter nördlich gelegenen Vorkommen, mit dem in der Segeberger Heide und den weiter südlich gelegenen Vorkommen handelt, hat man sich seinerzeit dazu entschieden diese Option zu nutzen. Es gab halt nichts Besseres. Umso wichtiger war es da, die letzte sich bietende Option zu sichern. Richtig so! Leider hat man zwischenzeitlich jedoch den LKW-Parkplatz westlich der A7, bis auf wenige Meter an die Grünbrücke heran erweitert, so dass dort nun überwiegend nachts LKW ein- und ausfahren, LKW-Fahrer rauchen, kochen und ihre Wäsche trocknen. Nicht gerade optimale Bedingungen für eine Wildart, der man aus gutem Grund nachsagt, dass sie äußerst störungsempfindlich ist. Generell kann sich Rotwild tatsächlich an gewisse „berechenbare“ Störungen gewöhnen, ob das an dieser Brücke, die sich ja außerhalb des Kernlebensraums befindet, jedoch geschehen wird, bleibt abzuwarten.
In diesem Zusammenhang soll hier auch erwähnt werden, dass sich Rotwild in seinen Lebensräumen im Laufe der Zeit durchaus an Windkraftanlagen gewöhnen kann, da diese ortsfest sind und die sich bewegenden Rotorblätter, Schlagschatten und etwaige Geräusche stets von den gleichen Stellen ausgehen. Diese Gewöhnung ist aber ortsspezifisch! Auf und in der Nähe von Fernwechseln sind Windkraftanlagen daher besonders kritisch zu sehen. Die Fernwechsel werden ja nur temporär genutzt, so dass hier eben keine Gewöhnung einsetzen kann. Das Risiko ist folglich groß, dass die Tiere, die ja ohnehin gestresst sind, durch die Anlagen verschreckt und so an ihrem Weiterzug gehindert werden.
Aber kommen wir zurück zur Brokenlander Brücke. In der Nähe der Brücke finden wir auf der westlichen Seite bereits, die soeben beschriebenen Windkraftanlagen. Aber auch das östliche Hinterland hat leider seine Tücken. Im Norden ist das Hinterland nämlich durch Neumünster und im Osten durch Boostedt und das dortige Munitionsdepot versperrt. Zu allem Überdruss liegt der Ort Großenaspe, südlich der Brücke, auch noch sehr ungünstig zwischen dem Depot und der A7. Insgesamt gibt es dort nur noch maximal fünf sehr schmale Korridore, die für das Rotwild passierbar sind. Aufgrund teilweise erheblicher Engpässe, zwischen Siedlungen und Gehöften, stellen vier von ihnen das Sicherheitsempfinden des Rotwildes jedoch auf eine harte Probe. Bei der gegebenen Situation reichen dort schon wenige schlecht geplante Maßnahmen und die Brücke ist faktisch für Rotwild nicht mehr erreichbar. Besonders stark angenommen wird die Brücke, die ja so dringend für den genetischen Austausch zwischen Nord und Süd benötigt wird, ohnehin noch nicht, aber das wird sicherlich noch kommen. Dafür ist es aber äußerst wichtig, dass die engen Korridore geschützt werden und dass niemand auf die Idee kommt, ausgerechnet in diese schmalen Streifen einen Solarpark, eine Windkraftanlage oder eine gezäunte Aufforstung zu setzen.
Das Umfeld der Brücke in Bad Bramstedt schaut da schon etwas besser aus. Zumindest, wenn man nicht zu sehr auf die Hinterlandanbindung achtet oder gar die Pläne für die Verlängerung der A20 berücksichtigt. Die Brücke, die die letzte Verbindung zwischen der Segeberger Heide und dem Hasselbusch ist, ist süd- und nord-westlich der A7 nämlich so sehr durch Ortschaften verbaut, dass sich lediglich zwischen Bad Bramstedt und Lentföhrden ein Korridor von knapp 1,7 km Länge bietet, auf dem das Wild über die B4 Richtung Hasselbusch ziehen kann. Die geplante Verlängerung der A20 soll genau durch diesen Korridor geführt werden. Wenn die A20 wie geplant gebaut wird, so wird sie die direkte Verbindung der Segeberger Heide mit dem Hasselbusch verschließen. Ein Austausch für die Population aus dem Hasselbusch, ist dann nur noch, über die bei Mönkloh geplante Grünbrücke, mit den Populationen in Aukrug, Barlohe, Iloo und Schierenwald möglich.
Die Brücke bei Bad Bramstedt hätte damit zumindest ihren ursprünglichen Zweck verfehlt. Schon vor dem Bau der Grünbrücke hat sich westlich der A7, nördlich der B206 jedoch eine kleine Trittsteinpopulation etabliert. Dieser Umstand lässt zumindest hoffen, dass es hier noch einen, wenn auch durch einen Windpark stark beeinträchtigten Fernwechsel gibt, der die Vorkommen in Aukrug, Barlohe, Iloo, Schierenwald mit denen in der Segeberger Heide verbindet. Um diese Option aufrecht zu erhalten, sollte der Wechsel jedoch auf ganzer Länge geschützt und auf keinen Fall weiter verbaut werden. Da er westlich und östlich der A7 die stark befahrene B206 kreuzt, sollten dort unbedingt die schon seit Jahren geplanten elektronischen Wildwarnanlagen installiert werden, um diese Wildunfallschwerpunkte zu entschärfen.
Dummerweise ist die Querung der Achse Hamburg-Lübeck, aber von ganz wesentlicher Bedeutung für das Rotwild im Rest des Landes und sogar für das in Dänemark. Die Populationen in Lauenburg und Mecklenburg zeichnen sich nämlich von allen hier behandelten Populationen, durch das höchste Maß an genetischer Variabilität aus. Die Achse Hamburg-Lübeck muss deshalb unbedingt ihre Sperrwirkung verlieren und wieder für das Rotwild passierbar gemacht werden! Gerade weil die Optionen für eine solche Querung bereits sehr eingeschränkt sind, müssen die wenigen die es noch gibt, schnellstens gesichert werden. Dies betrifft die Brückenstandorte ebenso wie deren Umfeld und die Wanderkorridore. Letztere müssen auf ganzer Länge gesichert werden. Eine dieser Optionen verläuft zum Beispiel auf Höhe Rolfshagen über A21, A1 und die Bahnlinie Hamburg-Lübeck. Dieser Vorschlag entlang der Wanderachse waldgebundener Großsäuger wurde bereits 2010 von LJV und LNV erarbeitet. Der Standort ist derzeit noch recht gut aus der Segeberger Heide und dem Duvenstedter Brook zu erreichen und verspricht einen Austausch mit den Vorkommen in Lauenburgund Mecklenburg.
Wenn jedoch noch einmal 12 Jahre ins Land gehen, dann wird wohl aber auch diese Querungsoption verbaut sein. Die hier dargestellte südliche Querung der Achse Hamburg-Lübeck wäre zwar nur für das Duvenstedter Vorkommen ideal, sie kommt dafür aber dem häufigsten Wanderverhalten der Duvenstedter Hirsche entgegen, was eine zügige Annahme der Querung verspricht. Beide Routen sind noch nicht detailliert bewertet worden, in der jetzigen Lage muss das vorrangige Ziel aber auch sein, Optionen zu sichern. Sonst stehen wir nämlich ganz schnell ohne da. Dieser Fall darf nicht eintreten, denn Fakt ist, dass das Rotwild im Land auf lange Sicht nur gesund erhalten werden kann, wenn sich die Teilpopulationen wieder frei untereinander austauschen können und wenn Hirsche aus Mecklenburg wieder bis nach Dänemark und zurück wandern können.
Als Anwalt des Wildes wird es Zeit, dass wir endlich unsere Stimme erheben und uns für eben diese Wiedervernetzung einsetzen. Die Prioritäten sind dabei klar: Öffnung der Achse Hamburg-Lübeck, Schutz neuralgischer Punkte im Hinterland der Grünbrücken, Schutz noch unverbauter und Wiederherstellung bereits verbauter Fernwechsel sowie Erstellung eines rechtsverbindlichen Wildwegeplans.
Wenn wir das nicht vermögen, dann wird die Trennung unser Rotwildpopulationen auf lange Zeit zementiert. Auch wenn sich das bei den derzeitigen Beständen vielleicht noch keiner vorstellen kann, aber die Tage vitaler Rotwildbestände, die nur so vor Kraft und Eleganz strotzen, die wären damit, zumindest im Zentrum des Landes gezählt.
Die gute Nachricht ist, dass die kritischen Punkte im direkten Hinterland der Brücken und auf den Fernwechseln, dank digitaler Landkarten ruck-zuck identifiziert werden können. Es wurde aber auch schon viel erarbeitet und so liegt zum Beispiel der Bericht zu „Lebensraumsituation, Lebensraumverbund und Management“ des Rotwildes von Meißner, et al. (2009) seit 13 Jahren vor.
Die Wiedervernetzung der Rotwildlebensräume können wir als Jäger jedoch leider nicht allein stemmen, dafür brauchen wir die Unterstützung aus der nichtjagenden Bevölkerung, insbesondere aber aus der Politik. Damit sich dort etwas bewegt, müssen wir unseren Mandatsträgern, ob sie nun Gemeindevertreter, Kreistagsabgeordneter, Mitglied des Landtags oder Mitglied des Bundestages sind, wissen lassen, dass wir von ihnen erwarten, dass sie sich für dieses Thema engagieren. Das geht am besten im persönlichen Gespräch, aber auch ein Brief wirkt mitunter Wunder. Bei Interesse können Sie sich gerne einen Musterbrief von unser Internetseite runterladen.
Neben der Sicherung der Fernwechsel ist ein ganz entscheidender Faktor, dass wir außerhalb der Kernlebensräume ziehende Hirsche vorerst möglichst schonen. Die besten Fernwechsel nützen nämlich nichts, wenn die wenigen ziehenden Stücke auf ihrer Wanderschaft erlegt werden. Hier sind die Reviere in den Kernlebensräumen auf die Unterstützung derjenigen in den Wanderkorridoren angewiesen, das geht nur miteinander.
Auch wenn es derzeit wahrlich nicht gut für das Rotwild in Schleswig-Holstein aussieht, so bin ich mir sicher, dass wir das Ruder rumreißen werden. Schließlich standen die Schleswig-Holsteinischen Jäger schon einmal ganz vorne, als es um die Rettung des Rotwildes ging. Nicht ohne Grund wurde hier 1922, mit dem Rotwildring Barlohe, der erste und damit auch älteste Rotwildring Deutschlands gegründet. Wenn wir den Geist, der damals zur Rettung des Rotwildes geführt hat, heute wieder erwecken, dann werden wir unser Rotwild auch vor den Gefahren des 21. Jahrhunderts schützen.
In diesem Sinne! Weidmannsheil und herzlichen Glückwunsch zum einhundertjährigen Bestehen nach Barlohe!
Frank Zabel, Wildbiologe (M. Sc.)